Dr. med. M. Berger -
ADHS,
die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung,
scheint
zu
einem
gravierenden Problem in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft - Familie,
Schule, Beruf - anzuwachsen. Viele Therapeuten verstehen ADHS schlicht als Folge eines
„gestörten“ Stoffwechsels der Überträgerstoffe im Gehirn (Neurotransmitter). Sie leiten
daraus die Notwenigkeit ab, mit Medikamenten zu behandeln, die in diesen
Stoffwechsel eingreifen (z.B. Ritalin). Andere, sagen wir mehr ganzheitlich orientierte
Fachleute, betrachten das Thema eher „multifaktoriell“. Sie möchten auch bei der
Behandlung die verschiedenen Facetten des Problems berücksichtigen und sehen in
der Anwendung von Psychopharmaka keine (langfristige) Lösung.
Die unterschiedliche Betrachtung beginnt häufig bereits bei der Frage, wer hat
eigentlich ADHS? Wann handelt es sich um eine „exzentrische“ Variante normalen
Verhaltens -
abweichend vom „mainstream“?
Wann liegt tatsächlich eine
gravierende Störung oder gar eine Krankheit vor?
Dieser Artikel soll Ihnen einen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Themas
geben, damit Sie sich in der z.T. hitzigen Diskussion um die ADH-Störung eine eigene
Meinung bilden können.
ADHS gilt als eine Störung bei der laut, medizinischer Definition, verschiedene
Veränderungen im Verhalten der Betroffenen bestehen:
•
eine Störung der Konzentration („AufmerksamkeitsDefizit“)
•
eine ausgeprägte (Bewegungs-) Unruhe („Hyperaktivität“)
•
große Schwierigkeiten, das eigene Verhalten angemessen zu steuern
(„verminderte Impulskontrolle“)
Voraussetzung für die Diagnose ADHS ist, dass das gestörte Verhalten in
unterschiedlichen Situationen und verschiedenen Lebensbereichen auftritt
(Familie, Schule, Freizeit) und die Symptome bereits im Vorschulalter auffielen.
Die Hoffnung,
die „Krankheit werde sich auswachsen“,
ist leider oft
unzutreffend. Bei einem großen Teil (bis zu 50 %) der betroffenen Kinder und
Jugendlichen bleibt die Störung, wenn auch in veränderter Form, bis ins
Erwachsenenalter bestehen. Fast 2/3 aller Kinder und Jugendlichen mit ADHS
leiden
zusätzlich unter begleitenden
(„komorbiden“)
Problemen, wie
Depressionen,
Ängsten,
Tic
–
Störungen und
/ oder so
genannten
Teilleistungsstörungen (Lese-, Rechtschreibe-, Rechen - Störungen).
Bei starker Ausprägung der Symptome fällt es meist nicht schwer, die Diagnose
zu
stellen. Bei
milderen Erscheinungen
besteht
allerdings
eine
große
„Grauzone“. Leider gibt es keinen einfachen, exakten, zuverlässigen Test auf
ADHS. Ein zu hoher Blutzuckerspiegel, bei einem Zuckerkranken, kann sehr
einfach durch eine Blutuntersuchung bestimmt werden. Die Diagnosestellung
ADHS ist deutlich aufwendiger. Sie beruht auf verschiedenen diagnostischen
Maßnahmen.
Wenn Eltern für ihre Kinder eine Diagnosestellung anstreben, liegt häufig bereits
ein Problem vor. Entweder ist der häusliche Frieden gestört oder die Eltern
wurden z.B. von Erziehern oder Lehrern auf das Verhalten ihrer Kinder angesprochen. In diesen Fällen besteht, unabhängig von der Frage ob eine
echte ADH - Störung vorliegt, Handlungsbedarf!
Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von Kindern / Jugendlichen mit
„oppositionellem Verhalten“ (z.B. starke Aggression, viel Trotz, Verweigerung,
Aufsässigkeit, provokantes
Verhalten,
Uneinsichtigkeit).
Auch
„Gesunde“
können zeitweilig ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen, entscheidend
ist aber die Frage, zu welchen Folgen das Verhalten führt.
Immer dann, wenn es zu erheblichen negativen Folgen im familiären, sozialen,
schulischen und/oder beruflichen Umfeld kommt, benötigen diese Kinder und
Jugendlichen und meist auch ihre Eltern Unterstützung durch eine Beratung
oder Behandlung - egal ob ADHS diagnostiziert werden kann oder nicht!
Psychologische Erklärung für ADHS
Psychologische Modelle betonen die Bedeutung der Lebenssituation, die auf eine vorhandene Veranlagung, eine „seelische Empfänglichkeit“ einwirkt. Wenn es an der Fähigkeit mangelt, mit belastenden Lebensumständen umzugehen, kann sich bei entsprechender Veranlagung ADHS - Verhalten entwickeln.
Einige wenige Aspekte seien an dieser Stelle genannt:
Die Veränderung und Destabilisierung der familiären Situation (z.B. durch Verlust der Großfamilie und familiärer Tradition, Alleinerziehen, zunehmende Ehescheidungen, Zunahme wirtschaftlicher Zwänge u.a.) kann zum Verlust von Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung führen. Auf einer unbewussten Ebene können Beunruhigung und Orientierungslosigkeit folgen. Die Vernachlässigung der emotionalen Zuwendung wird häufig durch eine „virtuelle Welt“ mit schneller Bilderfolge ersetzt: TV, Video, Computer, Gameboy, Playstation... - Stimulation wird zur Ersatzstruktur. Bei entsprechender Veranlagung sind Hyperaktivität und Impulsivität eine Möglichkeit, innere und / oder äußere Konflikte zu beantworten. Im Gegensatz zum depressiven Rückzug versuchen die Betroffenen Aufmerksamkeit und Zuwendung zu „erzwingen“. Oder das Verhalten kann als Kampf um das Erlangen von Kontrolle (über sich selbst und die Lebenssituation) interpretiert werden. Häufig wird aus Zeitmangel oder weil ganz einfach die Kraft im aufwendigen Alltag fehlt, Konflikten mit Kindern und Jugendlichen ausgewichen. „Grenzen“ werden nur unvollständig und inkonsequent abgesteckt. Es entsteht eine Tendenz zum grenzenlosen „Gewähren lassen“. Kinder werden durch stetes Nachgeben der Eltern für ihr Verhalten „belohnt“. Die Fähigkeit (Selbst-) Kontrolle über drängende Gefühle, Impulse und Wünsche zu erlangen wird nicht oder nur unzureichend erlernt.