Impfung; Foto: ©Davizro Photography/fotolia
Impfung; Foto: ©Davizro Photography/fotolia

Faktencheck Masern: Benötigen wir in Deutschland eine Impfpflicht?

Dr. med. M. Berger für www.homoeopathie-heute.de - Juni 2019

Das Deutsche Netzwerk für Homöopathie stellt in diesem Beitrag nicht die Masernimpfung in Frage. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt auf der Frage, ob wir eine Impfpflicht gegen Masern benötigen? Es werden die wesentlichen Argumente, die vorgebracht werden um die Forderung nach einer Impfpflicht gegen die Masernerkrankung zu begründen, kritisch hinterfragt.


Um in dieser Frage eine eigenständige Entscheidung treffen zu können, bedarf es umfassender Information. Da derzeit in der öffentlichen und medialen Diskussion viele Unklarheiten bis hin zu Unwahrheiten zum Thema Masern kursieren, möchten wir Ihnen zusammengefasst wesentliche Fakten als Grundlage für Ihre Meinungsbildung zur Verfügung stellen. Auf der Basis einer differenzierten Bewertung der Fragen, wie groß die Risiken durch die Krankheit sind, wie Wirksamkeit und Nutzen einer Impfpflicht zu beurteilen sind und worin Risiken und möglichen Kollateralschäden liegen könnten, kann das Für und Wider hinsichtlich der Einführung einer Impfpflicht in Deutschland abgewogen werden (1, 10,12, 29).


Im Text genannte Abbildungen und Tabellen finden Sie in der "Infobox 1", in Klammern gesetzte Zahlen verweist auf die Literatur ("Infobox 2"), die hochgestellten Buchstaben verweisen auf Beschreibungen der genannten Institutionen ("Infobox 3"). Sie können den ganzen Beitrag oder eine Zusammenfassung als PDF herunterladen.


1. Nehmen Masern in Deutschland zu?

Laut Gesundheitsminister Spahn sei es ein Skandal, dass immer mehr Kinder in Deutschland an Masern erkranken (7).


Die Fakten:

Abbildung 1 zeigt die Anzahl der Masernfälle pro Jahr in Deutschland (19, 20, 21). Ein Trend zu steigenden Masernfällen kann daraus nicht abgeleitet werden. Die Diskussion um die Masernimpfpflicht hätte noch vor einem halben Jahr jeder Grundlage entbehrt, da von 2017 auf 2018 die Zahl der Masernerkrankung deutlich zurückgegangen ist.


Abb. 1:
Zahl der Maserninfektionen über die Jahre; Quelle: (19) - siehe Kasten 1


Auch bei Betrachtung der Masernfälle in den ersten Kalenderwochen 2019 (Abb. 2) liegt die aktuell diskutierte Erkrankungsrate in den ersten Wochen 2019 unterhalb des langjährigen Mittelwertes.


Abb. 2:
Zahl der Maserninfektionen in den ersten Kalenderwochen 2019 im langjährigen Vergleich; Quelle: (19) - siehe Kasten 1

2. Wie viele Menschen sterben in Deutschland an Masern?

Die Fakten:

Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI)A stirbt in Industrieländern von 1000 Masernerkrankten 1 Mensch (= 0,1%). In Ländern mit Mangelernährung oder im Rahmen anderer Umstände, die eine Schwächung des Immunsystems bedingen können, kann die Sterblichkeit bedeutend höher sein (in manchen Ländern 5 - 6 %). Laut RKI kam es in Deutschland in 12 Jahren (2001 - 2012) zu 15 Todesfällen aufgrund von Masern (22) - das bedeutet,

  • dass im Schnitt etwa 1 Mensch im Jahr an Masern stirbt.

Kommentar:

Zum Vergleich dazu, seien die Zahlen für Todesfälle durch anderer Gesundheitsrisiken genannt: 2016 starben in Deutschland insgesamt 910.902 Menschen. Davon ca. 37 % an Herz-Kreislauferkrankungen (338.687 Menschen), etwa 25 % an Krebserkrankungen (238.396), geschätzt 4.000 Nichtraucher sterben durch Passivrauchen und 2018 kamen über 3.000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben.

3. Wie häufig sind bedrohliche Komplikationen nach Masern?

In einem Beitrag zur Ankündigung eines Gesetzentwurfes zur Masernimpfpflicht auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums heißt es: „Masern bringen häufig Komplikationen und Folgeerkrankungen mit sich. Dazu gehört im schlimmsten Fall eine tödlich verlaufende Gehirnentzündung“ (6).

Um die Häufigkeit genauer bestimmen zu können sind wir auf Schätzungen angewiesen, da Komplikationen an Masern nicht meldepflichtig sind.


Die Fakten:

1.

Eine gefährliche Komplikation der Masernerkrankung ist die akute Entzündung des Gehirns (Enzephalitis). Das RKI schätzt, dass von 1.000 Menschen mit Masern ein Betroffener an einer Enzephalitis erkrankt (= 0,1 %). Von Menschen, die an einer Enzephalitis erkranken, sterben etwa 10 - 20 % (1, 20, 22).


In den letzten zehn Jahren (2009 bis 2018) wurden insgesamt 9.597 Masernfälle in Deutschland registriert (20). Legt man die Schätzung des RKI zugrunde, sind

  • in den letzten 10 Jahren ca. 10 Personen an einer Enzephalitis nach Masern erkrankt.
  • 1 - 2 Personen könnte in den letzten zehn Jahren daran gestorben sein.

2.

Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine Komplikation, die sich erst Jahre nach einer Maserninfektion manifestiert. Es handelt sich um eine über Jahre schleichend verlaufende Infektion des Gehirns mit tödlichem Ausgang (1, 20). Bei der aktuellen Diskussion um die Impfpflicht gegen Masern spielt die Verhinderung von SSPE eine wichtige Rolle, da sie vermutlich vor allem bei kleinen Kindern auftritt, die noch keinen Impfschutz gegen Masern haben (siehe 6.; Thema: Herdenimmunität).

Bezogen auf alle Altersklassen schätzt das RKI die Häufigkeit der SSPE auf maximal einen Fall pro 10.000 Masernkranke (= 0,01 %) (1, 19, 20). Für den Zeitraum von 2009 bis 2018 (knapp 10.000 Masernfälle) würde das bedeuten:

  • In den letzten zehn Jahren könnte es zu einem Fall von SSPE gekommen sein.

Laut RKI sind kleine Kinder besonders gefährdet. Bei Kindern unter einem Jahr gibt es auf 10.000 Masernkranke 6 Fälle von SSPE (20). Nach einer aktuellen Berechnung sind in den letzten 18 Jahren (2001 bis 2018) insgesamt 1.200 Kinder im ersten Lebensjahr an Masern erkrankt (18,19). Legt man die genannten Angaben des RKI zur Häufigkeit der SSPE für kleine Kinder zugrunde, wäre

  • in diesen 18 Jahren maximal 1 Säugling an SSPE erkrankt sein.

Die Universität Würzburg hat gemeinsam mit dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit 2013 eine Studie zum SSPE - Risiko veröffentlicht (24). Die Datenlage ist sehr unsicher (2). Nach Verknüpfung geschätzter Variablen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass das Risiko für die Entwicklung einer SSPE nach Masernerkrankung in Deutschland größer ist, es könnte 1 : 3.300 betragen. Ob sich diese SSPE - Erkrankungen durch eine Impfpflicht hätten vollständig vermeiden lassen, bleibt unklar: Von den 31 ausgewerteten Fällen waren 17 Kinder regulär gegen Masern geimpft (24).

  • Legt man diese Berechnung zu Grunde, wären bezogen auf alle Altersklassen in den letzten 10 Jahren 3 Fälle von SSPE aufgetreten.

Auch wenn es in der Literatur Hinweise darauf gibt, dass seit Einführung der Masernimpfung weltweit das Auftreten von SSPE-Erkrankungen abnimmt, bleibt wegen der geringen Zahl erfasster SSPE - Fälle die Datenlage und unser Wissen über die Häufigkeit des Auftretens weiter unsicher (1,2).


Kommentar:

Im medizinischen Kontext sollten Angaben zur Häufigkeit (von Komplikationen), wie „selten“ oder „häufig“ (siehe oben), nicht einer subjektiven Einschätzung folgen, sondern folgenden Maßstab berücksichtigen (17):

sehr häufig: mehr als 10 von 100; (mehr als 10%)

häufig: 1-10 von 100, (1 bis 10%)

gelegentlich: seltener als 1 von 100 bis 1 von 1.000; (seltener als 1% - 0,1%)

selten: seltener als 1 von 1.000 bis 1 von 10.000; (seltener als 0,1% - 0,01%)

sehr selten: seltener als 1 von 10.000; (seltener als 0,01%)


Legt man diese Norm zugrunde, wäre die Angabe des Gesundheitsministeriums, Masern ziehe „häufig“ Komplikationen nach sich, zu korrigieren:

  • Akute Enzephalitis: selten / gelegentlich
  • Tod wegen Enzephalitis: selten / sehr selten
  • SSPE: sehr selten


4. Nimmt die „Impfmüdigkeit“ in Deutschland zu?

Dieser Verdacht wird in dem o.g. Gesetzentwurf für den Schutz gegen Masern aufgegriffen (6): „Die angestiegenen Fallzahlen sind auf fortschreitende Impfmüdigkeit zurückzuführen. Eine große Zahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsen sind nicht durch eine Impfung geschützt.“


Die Fakten:

Die WHOG und das RKI empfehlen eine Impfquote von zumindest 95 %, um die Zirkulation von Masernviren in der Bevölkerung wirksam einzudämmen und einen „Herdenschutz“ zu gewährleisten (21, 26). Für eine „vollständige“ Masernimpfung werden zwei Impfungen empfohlen.

Laut RKI liegt die Impfquote für die erste Masernimpfung seit Jahren konstant über 97 %, die Quote für die zweite Impfung zwischen 92 und 93 % (22) (siehe auch Abb. 3).

  • Der Anteil der Kinder, die gegen Masern geimpft sind, ist in Deutschland über die Jahre stabil.

Eine Studie (8) der Bundeszentrale für gesundheitliche AufklärungB kommt zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der Einstellung zu Impfungen in Deutschland keine zunehmende Impfmüdigkeit festzustellen sei, das Gegenteil ist der Fall (Bezugsjahr 2016):

  • „Im Vergleich zur Untersuchung 2014 ist der Anteil derjenigen, die Impfungen befürwortend gegenüberstehen, signifikant gestiegen.“

Weiter wird in der Studie ausgeführt, dass fehlende Impfungen nicht einfach pauschal einer „Impfmüdigkeit“ zugerechnet werden können und die Gründe nicht in einer grundsätzlich impfkritischen Haltung zu suchen sind: „[...] Gründe für eine fehlende Impfung sind mithin komplex und vielschichtig und müssen sorgfältig analysiert werden [...]“ (8).


Kommentar:

Ein Argument der Befürworter einer Impfpflicht bezieht sich auf die Impfquote für die zweite Masernimpfung. Offensichtlich wird daraus vielfach der Schluss gezogen, dass die Impfquote für die zweite Masernimpfung den Gesamtschutz in Deutschland bei Kindern widerspiegelt, diese aber mit 92 bis 93% für einen Herdenschutz in Deutschland zu niedrig sei (6). Dazu ist folgendes anzumerken:


1.

Aus der Impfquote für die zweite Masernimpfung kann nicht geschlossen werden, dass insgesamt nur 92 - 93 % der Kinder einen wirksamen Masernschutz haben. Denn für einen vollständigen Impfschutz gegen Masern sind nicht grundsätzlich zwei Impfungen notwendig. Nach der ersten Masernimpfung bauen 90 - 95 % der geimpften Kinder einen vollständigen Schutz auf. Bei ca. 5 - 10 % der Geimpften versagt die erste Impfung. Um auch diese Kinder wirksam zu schützen, wird die zweite Impfung vorgenommen (1, 26).

  • Unter Berücksichtigung der Quoten für beide Impfungen, haben über 95% der Kinder in Deutschland einen wirksamen Schutz gegen Masern (9).

2.

Möglicherweise wird in Deutschland die Bedeutung der 2. Masernimpfung überschätzt. In Deutschland soll die zweite Masernimpfung gemäß Empfehlung der STIKOF ab dem 15. Lebensmonat erfolgen. Demgegenüber verlassen sich sowohl die WHO als auch viele andere Länder zunächst auf die Wirksamkeit der ersten Masernimpfung und empfehlen die zweite Impfung erst mit Beginn des Schulalters (1, 19, 26).


Selbst unter Experten innerhalb Deutschlands ist die Empfehlung der STIKO für den frühen Impfzeitpunkt umstritten. Für das Bundesland Sachsen empfiehlt die Sächsische Impfkommission den späteren Impftermin gemäß WHO und kritisiert die Empfehlung der STIKO als: „ [...] Vorverlegung der zweiten Masernimpfung in das zweite Lebensjahr [...] ohne wissenschaftliche Begründung [...]“ (4, 23).


Die Überbewertung der Impfquote für die zweite Masernimpfung zeigt sich auch darin, dass in etliche Länder Europas trotz niedriger Impfquote für die zweite Masernimpfung weniger Masernerkrankungen als in Deutschland vorkommen:


Tab. 1: Die Impfrate für die 2. Masernimpfung korreliert nicht mit der Häufigkeit von Masern; Quelle: modifiziert nach (19) - siehe Kasten 1


5. Kann durch eine Impfpflicht die Quote geimpfter Kinder weiter vergrößert werden?

Zwar beträgt die Gesamtimpfquote in Deutschland bei Kindern nach zwei Impfungen über 95 %, dennoch erscheint der Gedanke, je mehr Kinder geimpft sind, umso besser, zunächst plausibel. Bleibt die Frage, ob durch eine Masernimpfpflicht

1. die Quote geimpfter Kinder tatsächlich erhöht werden kann und

2. ob durch eine Impfpflicht die Zahl von Masernerkrankungen weiter reduziert werden kann?


Die Fakten

1. Impfquoten

Wenn wir die Impfquoten in Deutschland mit denen anderer europäischer Länder vergleichen, die bereits länger eine Impfpflicht eingeführt haben, stellen wir fest, dass die Durchimpfungsrate in Deutschland auch ohne Impfpflicht insgesamt konstant hoch ist: (9)


Abb. 3: Impfraten für die 1. und 2. Masernimpfung in Deutschland im Vergleich zu Länder mit Impfpflicht (Durchschnitt), Quelle: modifiziert nach (9) - siehe Kasten 1


Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und FamilienmedizinC stellt fest: „[...] Eine weitere Steigerung der 97-prozentigen Impfquoten für die erste MMR Impfung bei Kindern ist absehbar schwierig [...]“ (9).


Eine von der EU finanzierte Studie findet keinen Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Verbesserung von Impfquoten (3).


2. Erkrankungshäufigkeit

Nicht nur in Bezug auf die Impfraten, auch in Bezug auf die Reduzierung der Masernhäufigkeit blieb die Verordnung einer Impfpflicht bislang den Beweis einer Wirksamkeit schuldig. In den letzten zehn Jahren kam es gerade in europäischen Ländern mit Impfpflicht wiederholt zu Krankheitsausbrüchen mit hohen Erkrankungszahlen.


Tab. 2: Zahl der Infektionen bei Masernausbrüchen in einigen Ländern mit Impfpflicht im Vergleich zu Deutschland (ohne Impfpflicht), Quelle: modifiziert nach (18) - siehe Kasten 1


Die bereits zitierte Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (8) aus dem Jahr 2017 lässt Zweifel aufkommen, ob eine Impfpflicht tatsächlich nützlich und damit notwendig ist. Sie betont vor allem die Rolle der Aufklärung als wesentliche Maßnahme zur Verbesserung von Impfraten: „[...]Wissensdefizite sind das am häufigsten genannte Hindernis für die Inanspruchnahme einer Masernimpfung. [...] Die Schlüsselrolle der Ärzteschaft unterstreicht auch die Antwort auf die Frage, welche Möglichkeiten als geeignet angesehen werden, um sich über Impfungen zu informieren. Hier wird in allen betrachteten Bevölkerungsgruppen mit Abstand am häufigsten ein persönliches Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin genannt. [...]“


Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin befürwortet in einem Positionspapier die zweimalige Impfung gegen Masern, lehnt aber eine Impfpflicht wegen des unklaren Nutzens ab (9).


Selbst der Vorsitzende der STIKO, Prof. Thomas Mertens geht davon aus, dass die Einführung einer Masernimpfpflicht „[...] in vieler Hinsicht kontraproduktiv [...]“ ist (16).

Ähnliche Zweifel am Sinn einer Impfpflicht haben der Präsident des RKI, Prof. Lothar Wieler und weitere Mitglieder der STIKO geäußert (27, 28, 29).


Auch das arznei-telegramm A kommt zu dem Schluss: „[...] Ein Impfzwang sollte jedoch grundsätzlich erst in Betracht kommen, wenn weniger eingreifende Maßnahmen ausgeschöpft sind. Das ist bei der Masernimpfung ganz offensichtlich nicht der Fall. Zudem lassen sich mit einer Impfpflicht für Kinder, bei denen ohnehin hohe Impfquoten vorliegen, die relevanten Immunitätslücken bei Erwachsenen nicht beheben [...]“ (2).


6. Zum Schutze nicht geimpfter Kinder bedarf es einer „Herdenimmunität“

Die Fakten:

Kinder sind besonders im ersten Lebensjahr für Komplikationen durch eine Massenerkrankung gefährdet (25). Die Wirksamkeit der Masernimpfung, d.h. die ausreichende Entwicklung schützender Antikörper, ist aber erst zum Ende des ersten Lebensjahres gewährleistet. Ein Hauptargument der Befürworter einer Impfpflicht ist, dass Kinder im ersten Lebensjahr (oder Kinder, die aus medizinischen Gründen auch später nicht geimpft werden können) darauf angewiesen sind, möglichst nicht in Kontakt mit dem Masernvirus zu kommen, was durch eine hohe Impfrate bei Kindern und Betreuern gewährleistet werden soll (sogenannte Herdenimmunität). Die Masernimpfung schützt also nicht nur das geimpfte Kind, sondern gleichzeitig (noch) nicht Geimpfte, beziehungsweise Kinder, die aus verschiedenen (medizinischen) Gründen nicht geimpft werden können. Für einen wirksamen Herdenschutz sollten 95% der Bevölkerung über einen Impfschutz verfügen (20, 22, 25, 26).


Kommentar:

1.

Mütter übertragen ihren Kindern zum Ende der Schwangerschaft schützende Antikörper (sog. Nestschutz). Diese Antikörper werden von den Müttern entweder durch eine Impfung oder das Durchleben der (Masern-) Krankheit erworben.

Der Nestschutz nach einer Masernerkrankung ist wesentlich effektiver (Dauer ca. ein Jahr) als nach einer Masernimpfung (ca. ein halbes Jahr). Vor Einführung der Masernimpfung haben nahezu alle Jugendlichen Masern in mehr oder weniger ausgeprägter Form durchgemacht - durch den effektiven Nestschutz der Mütter waren Säuglinge im gefährlichen ersten Lebensjahr geschützt (1, 13, 15). Insofern macht die Gefährdung kleiner Kinder vor dem ersten Geburtstag einen Herdenschutz durch hohe Impfraten notwendig, ist allerdings andererseits die Folge der Masernimpfprogramme.

2.

Ob sich auch mit größeren Impfraten, als sie derzeit in Deutschland erzielt werden, ein vollständiger Herdenschutz ausbilden lässt, ist umstritten. Bei verschiedenen Masernausbrüchen hat sich gezeigt, dass auch zweimal Geimpfte an Masern erkrankt sind (und sie damit auch übertragen können). Das RKI geht davon aus, dass in den letzten 15 Jahren in Deutschland ca. 10 bis 25 % der an Masern erkrankten Personen vollständig geimpft waren (20).

3.

Das könnte auch damit zusammen hängen, dass entgegen der Vermutung die Masernimpfung würde einen lebenslangen Schutz bieten, sich die Hinweise mehren, dass die Schutzwirkung der Impfung mit den Jahren abnimmt - anders als nach durchgemachter Krankheit. Dies wäre eine Erklärung für die Tatsache, dass das Erkrankungsalter sich in Richtung höherer Lebensalter verschoben hat. Vor Einführung der Masernimpfung war die Krankheit eine reine Kinderkrankheit - 2014 waren bereits über 60 % der Erkrankten älter als 16 Jahre. Auch aufgrund dieser Tatsache, dass Ältere zunehmend weniger Masernschutz haben, könnte eine wirksame Herdenimmunität infrage gestellt sein (2, 18, 19, 20).

4.
Zusätzlich könnte diese Verschiebung der Altersstruktur Erkrankter die Zahl Betroffener mit Komplikationen erhöhen, da das Risiko für Komplikationen durch Masern bei Kindern im ersten Lebensjahr und bei Erwachsenen ab dem 20. Lebensjahr erhöht ist (15).

5.

Wenn nun zunehmend Erwachsene Masern übertragen, bleibt die Frage, ob eine Erhöhung der Impfquote bei Kindern in der Lage ist, den gewünschten (Herden-) Effekt zu erzielen. Ob und ggf. wie die Ausdehnung einer Impfpflicht auch auf Jugendliche und Erwachsene realisiert werden könnte, bleibt mehr als fraglich (20, 29).

Fazit


Neben dem Ruf nach einer Impfpflicht gegen Masern gibt es in der aktuellen Diskussion bereits Stimmen, die auch eine staatlich geregelte Verordnung für alle von der STIKO empfohlenen Impfungen propagieren (11). Im Sinne eines „Dammbruchs“ sind weitere Vorstöße zur Durchsetzung weiterer verpflichtender medizinischer Maßnahmen denkbar.


Impfungen gelten wie auch andere medizinische Maßnahmen als Körperverletzung und bedürfen nach ausführlicher Aufklärung der Einwilligung Betroffener (oder ihrer Sorgeberechtigten). Eine Impfpflicht ist ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2, Abs. 2, Satz 1, Grundgesetz) und steht dem im Patientenrechtegesetz formulierten Anspruch auf Aufklärung und eigene („informierte“) Entscheidung entgegen (5, 29).


Auch bei respektvoller Würdigung jeder einzelnen Komplikationen und jedes einzelnen Todesfalles im Rahmen einer Masernerkrankung gilt es, deren Seltenheit auf der einen Seite mit der Einschränkung von Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen.


Es besteht unter Experten bei Weitem kein Konsens über die Notwendigkeit und die Effektivität einer Impfpflicht gegen Masern:

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (9) plädiert für die konsequente Umsetzung der Impfziele innerhalb der bestehenden Gesetze und Strukturen durch Erinnerung und Motivation auch Jugendlicher und Erwachsener und lehnt eine Impfpflicht ab, weil „[...] ihr Nutzen unklar und sie womöglich nicht geeignet ist, das Ziel höherer Durchimpfungsraten zu erreichen. [...]“ (9).


Auf die eine Impfpflicht ablehnenden Stellungnahmen aus den Reihen der Ständigen Impfkommission (STIKO) und des Robert-Koch-Instituts (RKI) haben wir bereits hingewiesen (16, 27, 28).


Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte MedizinD hat aktuell in einer Stellungnahme u.a. ausgeführt: „[...] Das Patientenrechtegesetz sichert den Bürgern Aufklärung und informiertes Entscheiden zu. Kampagnen und Forderung nach einer Impfpflicht stehen diesen legitimen Ansprüchen der Bevölkerung entgegen. [...] Eine ehrliche Aufklärung der Ärzteschaft und der Bevölkerung könnte langfristig das Vertrauen in das Medizinsystem stärken und die Impfbereitschaft für sinnvolle Impfungen erhöhen. Maßnahmen zu einer Verbesserung der Impfraten sind derzeit bei Weitem nicht ausgeschöpft. Von Zwangsmaßnahmen sollte in einem aufgeklärten demokratischen System Abstand genommen werden. [...]“ (12)


Abgesehen von der Frage möglicher Impfnebenwirkung (nicht das Thema dieses Beitrags) gibt es vielfältige Bedenken gegen eine Masernimpfpflicht: Beispielsweise könnte ein Nebeneinander von verpflichtenden und freiwilligen Impfungen zur Folge haben, dass freiwillige Impfungen als weniger wichtig erachtet werden und die Impfquoten sinken (2). Was, wenn Eltern schulpflichtiger Kinder die geforderte Strafe bezahlen und ihre Kinder trotzdem nicht impfen lassen? Wie werden (medizinische) Ausnahmen definiert? Was ist, wenn es im Rahmen einer Impfflicht (wieder mal) zu Lieferproblemen mit dem Impfstoff kommt? Welche rechtlichen Probleme ergeben sich aus der Tatsache, dass in Deutschland seit 2012 kein monovalenter Impfstoff gegen Masern zugelassen ist, lediglich in Kombination mit Mumps und Röteln? Eine Masernimpfpflicht bedeutet damit faktisch auch eine Impfpflicht gegen Mumps und Röteln (2). Welche Auswirkungen auf das Vertrauen in unser medizinisches System ergeben sich, wenn sich in einigen Jahren herausstellen sollte, dass die Impfpflicht gegen Masern, ähnlich wie in anderen Ländern mit Impfpflicht, nicht den erwünschten Erfolg mit sich bringt? (2, 12)


In diesem Sinne hat auch der Deutsche Ethikrat eine differenziertere Debatte über die Impfpflicht gefordert (10).


Es stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob der Staat in einer pluralistischen Gesellschaft ein Wissens- oder Wissenschaftsmonopol für sich in Anspruch nehmen und gesundheitliche Maßnahmen für alle verpflichtend vorschreiben sollte? Für die Einführung eines verpflichtenden medizinischen Eingriffs bedarf es guter Gründe - z.B. so etwas wie einen relevanten „Masernnotstand“ in Deutschland. Todesfälle und Komplikationen nach Masernerkrankungen sind in vielen Ländern ein Problem - in Deutschland jedoch selten bis sehr selten. Darüber hinaus sollten wir uns sicher sein, dass die Einführung einer verpflichtenden medizinischen Maßnahme effektiv ist. Auch aufgrund des Beispiels anderer Länder, die eine (Masern-) Impfpflicht eingeführt haben, bestehen daran erhebliche Zweifel. Es gibt derzeit keine Evidenz dafür, dass eine Masernimpfpflicht in Deutschland eine effektive Maßnahme ist, um die ohnehin hohen Masernimpfquoten bei Kindern und die seltenen Todesfälle oder Komplikationen nach Masern effektiv zu beeinflussen.


Kurzversion des Beitrags

Zusammenfassung:

Das Deutsche Netzwerk für Homöopathie stellt in diesem Beitrag nicht die Masernimpfung in Frage. Vielmehr geht es um die Frage, ob wir eine Impfpflicht gegen Masern benötigen? Es werden die wesentlichen Argumente, die vorgebracht werden um die Forderung nach einer Impfpflichtgegen die Masernerkrankung zu begründen, kritisch hinterfragt. Da derzeit in der öffentlichen und medialen Diskussion viele Unklarheiten bis hin zu Unwahrheiten zum Thema Masern kursieren, möchten wir Ihnen zusammengefasst wesentliche Fakten, als Grundlage für Ihre Meinungsbildung zur Verfügung stellen.

Die Zahl der Menschen, die in Deutschland an Masern erkranken schwankt von Jahr zu Jahr. Ein Trend zu steigenden Fallzahlen ist nicht erkennbar. Todesfälle oder Komplikationen durch Masern sind in Deutschland selten bis sehr selten. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts stirbt in Deutschland im Schnitt ca. ein Mensch im Jahr an der Krankheit. Eine potentiell gefährliche und lebensbedrohliche Komplikation der Masernerkrankung ist die akute Entzündung des Gehirns (Enzephalitis). Schätzungen auf Basis der Häufigkeitsangaben des Robert-Koch-Instituts legen nahe, dass ca. eine Person pro Jahr an einer Enzephalitis durch Masern erkrankt. Ein bis zwei Personen könnten den letzten zehn Jahren daran gestorben sein.

Laut einer Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist in Deutschland keine zunehmende Impfmüdigkeit festzustellen. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts betragen die Impfquoten bei Kindern über die Jahre stabil etwa 97 % für die erste und 92 - 93 % für die zweite Masernimpfung – damit sind insgesamt über 95 % der Kinder gegen Masern geimpft. Die WHO und das Robert-Koch-Institut empfehlen eine Gesamtimpfquote von mindestens 95 %, um die Zirkulation von Masernviren in der Bevölkerung wirksam einzudämmen und einen „Herdenschutz“ zu gewährleisten.

Eine Impfpflicht ist kein Garant für hohe Impfquoten und niedrige Krankheitszahlen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, die bereits länger eine Impfpflicht eingeführt haben, ist die Quote geimpfter Kinder in Deutschland konstant hoch. Gerade in Ländern mit einer Impfpflicht werden immer wieder Krankheitsausbrüche mit hohen Erkrankungszahlen registriert. Deutschland, ohne Impfpflicht, schneidet im Vergleich besser ab.

Ob sich das Ziel einer Impfpflicht, die Anhebung der Impfraten bei Kindern in Deutschland und damit die Ausbildung eines vollständigen Herdenschutzes für nicht geimpfte Kinder, realisieren lässt, ist umstritten. Dagegen spricht, dass nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in den letzten 15 Jahren in Deutschland von vollständig geimpften Personen dennoch ca. 10 - 25 % an Masern erkrankt sind. Vor Einführung der Masernimpfung war die Krankheit eine reine Kinderkrankheit - 2014 waren bereits über 60 % der Erkrankten älter als 16 Jahre. Selbst dann, wenn die Impfquote unter Kindern weiter steigt, die Verschiebung des Erkrankungsalters in Richtung höheres Lebensalter stellt einen vollständigen Herdenschutz infrage. Ob und gegebenenfalls wie die Ausdehnung einer Impfpflicht auch auf Jugendliche und Erwachsene in Deutschland realisiert werden könnte, bleibt mehr als fraglich.


Auch bei respektvoller Würdigung jeder einzelnen Komplikationen und jedes einzelnen Todesfalles im Rahmen einer Masernerkrankung gilt es, deren Seltenheit auf der einen Seite mit der Einschränkung von Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit aller andererseits in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen.

Es besteht unter Experten bei weitem kein Konsens über die Effektivität und Notwendigkeit einer Impfpflicht gegen Masern. Fundierte Zweifel werden von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, von dem Vorsitzenden und weiteren Mitgliedern der Ständigen Impfkommission (STIKO), dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und der renommierten und unabhängigen Zeitschrift arznei-telegramm vorgetragen.

Es besteht derzeit keine Evidenz dafür, dass eine Masernimpfpflicht für Kinder in Deutschland als effektive Maßnahme zu bewerten ist, um die ohnehin hohen Masernimpfquoten bei Kindern und die seltenen bis sehr seltenen Todesfälle oder Komplikationen durch Masern effektiv zu beeinflussen. So bleibt die grundsätzliche Frage, ob der Staat in einer pluralistischen Gesellschaft (ohne Not) ein Wissens- oder Wissenschaftsmonopol für sich in Anspruch nehmen und gesundheitliche Maßnahmen für alle verpflichtend vorschreiben sollte?

Hinweise auf die relevante Literatur und die Kurzbeschreibung der erwähnten Institutionen können Sie der Langfassung des Beitrages entnehmen.


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